Wie viele andere Veranstaltungen musste auch das Rudolstadt-Festival pandemiebedingt eine zweijährige Zwangspause einlegen. Nun lud Deutschlands größtes Folk- und Weltmusikfestival endlich wieder zur großen Sause am Saalestrand. Zwar wurden aus Vorsichtsgründen weniger Tickets verkauft als in den Jahren vor Corona, ansonsten war aber eigentlich wieder alles wie früher und die verschobene 30. Ausgabe des Festivals hatte alles, was zu einem perfekten Rudolstadt-Wochenende gehört.
Da wäre zunächst das Wetter. Warum ich ausgerechnet damit anfange? Weil es so sehr zu diesem Festival gehört wie die Musik und jedes Jahr aufs Neue Thema ist, auch wenn man sich darüber niemals einigen wird. Sengende Sonne, drückende Schwüle, langanhaltende Regen- und Gewittergüsse und feuchtkalte Nächte auf dem Campingplatz an den Saalewiesen. Und was soll ich sagen: Bis auf die Schwüle vielleicht war alles in ausreichender Menge und Mischung vorhanden. Punkt eins auf der Checkliste konnte man also abhaken.
Ebenso unbedingt zum Rudolstadt-Festival gehört das Länderspecial. In diesem Jahr war es nicht ein einzelnes Land, das im Fokus stand, oder besser gesagt, das entsprechende Land existiert nicht mehr. Im Mittelpunkt standen diesmal die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens. Von großen Namen, wie dem BOBAN MARCOVIĆ ORKESTAR aus Serbien, das das Festival am Donnerstagabend eröffnete bis hin zu eher schrägen Vertretern wie RAMBO AMADEUS & FIVE WINNETOUS aus Montenegro oder aufstrebenden Künstlerinnen wie der Rap-Gruppe PRETTY LOUD.
Das Ensemble junger Roma-Frauen aus Serbien wurde bereits 2014 gegründet und setzt sich für die Stärkung der Rolle der Frau in der Roma-Gesellschaft und gegen die Praxis der Zwangsheirat ein. Die jungen Damen verbreiteten diese Botschaft mit so viel Freude und hatten so viel Spaß auf der Bühne, dass ich, nachdem ich bei ihrem ersten Auftritt hängengeblieben war, meinen minutiös ausgearbeiteten Plan einmal mehr über den Haufen warf und mir am nächsten Tag die Show von PRETTY LOUD noch einmal in Gänze anschaute.
Damit waren schon drei weitere Punkte auf der Rudolstadt-Gästeliste abgehakt: Das Länderspecial, die Programm-Umplanungen und die Neuentdeckungen. Neben PRETTY LOUD zählten zu letzteren für mich definitiv auch TIM MCMILLAN & RACHEL SNOW. Das australische Pärchen bot mit seiner sympathischen Akustik-Show in einem gemütlichen Garten etwas abseits der Festival-Hauptstraßen einen wunderschönen Kontrapunkt zum Geschehen auf den großen Bühnen. Und war deswegen nicht minder virtuos. Was Tim auf seiner Akustikklampfe anstellt, hat das Prädikat virtuos verdient und Rachels Geigenmelodien und Gesangsharmonien bildeten dazu die perfekte Ergänzung. Ein gutes Beispiel, warum man beim Rudolstadt-Festival die Straßen- und Hofmusik-Acts nie außer Acht lassen sollte, wenn man nicht so manche versteckte Perle verpassen will – Checkliste: Straßenmusik.
Meine absolut favorisierte Neuentdeckung an diesem Wochenende aber waren LIGHT IN BABYLON, die damit gleich noch Haken an einen weiteren Punkt auf der Liste setzten. Denn unter den Neuentdeckungen finden sich in Rudolstadt gewöhnlich ein oder mehrere Bands, deren Konzerte noch ein bisschen mehr sind als lediglich „gut“. Konzerte, die, wenn man daran zurückdenkt, einem noch Wochen später ein begeistertes Lächeln auf die Lippen zaubern. Bühnen-Wirbelwind Michal Elia Kamal und ihren männlichen Mitstreitern gelang dies sowohl in der Trio- als auch der Quintett-Besetzung mühelos. Michal, Israelin mit iranischen Wurzeln, der französische Gitarrist Julien Demarque und der türkische Santur-Spieler Metehan Çiftçi gründeten die Band 2010 in Istanbul, 2017 wurde sie um den Bassisten Priam Arnoux und den Schlagzeuger Stuart Dickson erweitert. So divers wie die Herkunft der Mitglieder ist auch der musikalische Stil von LIGHT IN BABYLON: In ihren Liedern mischen sie türkische, israelische, Balkan-, und Roma-Einflüsse. Das präzis groovende Zusammenspiel der Band und die energetische Performance von Michal machen die Band live zu einem außergewöhnlichen Erlebnis – highly recommended!
Neben den Neuentdeckungen wartet das Rudolstadt-Festival auch immer mit einigen wirklich großen Namen auf. In diesem Jahr gebührte das Weltstar-Prädikat zum einen Balkan-Grandseigneur GORAN BREGOVIĆ, der zusammen mit seiner WEDDING AND FUNERAL BAND am Sonntagabend den grandiosen Endpunkt unter das Festival setzte, zum anderen mit Sicherheit dem US-amerikanisch-kanadischen Singer/Songwriter RUFUS WAINWRIGHT. 30 Jahre zuvor war er bereits einmal in Rudolstadt zu Gast gewesen, damals noch als 19-jähriger Background-Sänger in der Band seiner Mutter und Tante (THE MCGARRIGLE SISTERS AND FAMILY). Nun kehrte er für ein Solokonzert, nur selbst begleitet an Flügel oder Gitarre, zurück in den Hof der Heidecksburg und verzauberte die Zuhörer*innen mit Songs wie „Gay Messiah“, „Going To A Town“ oder dem zusammen mit dem Publikum gesungenen Harold Arlen-Evergreen „Somewhere Over The Rainbow“. Leider war zu diesem Zeitpunkt gegen Ende des Konzerts der Burghof nur noch etwa zur Hälfte gefüllt. Der Publikumsschwund könnte daran gelegen haben, dass zur gleichen Zeit auf dem Markt das „Konzert für die Ukraine“ mit MARIANA SADOVSKA und zahlreichen anderen unkrainischen Künstler*innen stattfand und ebenso zeitgleich im Park die britische Band THE DIVINE COMEDY – sicherlich auch keine Unbekannten – auf der Bühne stand. Drei solche Hochkaräter auf dem gleichen Programmplatz zu setzen war zumindest unglücklich, da man sich schlecht dreiteilen konnte und damit bei den einzelnen Acts sicherlich weniger Publikum anwesend war als es sonst der Fall gewesen wäre.
RUFUS WAINWRIGHT und das „Konzert für die Ukraine“ ließen mich einen weiteren Punkt auf der „Perfektes-Festival-Checkliste“ abhaken – das Politische, das schon immer mit dem Rudolstadt-Festival verbunden war (auch wenn das einige User*innen auf den Social-Media-Kanälen des Festivals nicht wahrhaben wollen). Neben den beiden genannten gebührte das Label „politischster Act 2022“ definitiv PUSSY RIOT. Das putinkritische Punk Künstlerinnen-Kollektiv aus Russland, die 2012 durch ihr „Punk-Gebet“ in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale und den anschließenden Prozess weltweit für Aufsehen sorgten, tritt seither in verschiedenen Besetzungen unabhängig voneinander auf. In Rudolstadt waren es Olga Borisova, Diana Burkot und Maria Aljochina, die zusammen mit einem männlichen Saxophonisten die Bühnenshow bestritten. Dass Text-Projektionen ein wesentlicher Teil der Performance waren, man diese aber im hellen Sonnenlicht kaum lesen konnte, trübte das Konzerterlebnis allerdings ein wenig. Natürlich brachten die Damen auch einen recht ungewohnten Sound auf ein Folk- und Weltmusik-Festival, aber wie eingangs erwähnt, der Auftritt der Band war wohl weniger der musikalischen Kompatibilität geschuldet als vielmehr als deutliches politisches Statement anzusehen.
Wobei, nächster Punkt auf der Liste, die Vielfalt war ja auch schon immer eine große Stärke des Festivals. Neben den russischen Punk-Aktivistinnen lässt sich das vielleicht am besten am Gegensatz zwischen den Gruppen LEMMA und ÄTNA illustrieren: Das Ensemble LEMMA versucht, das weibliche musikkulturelle Erbe der Sahara-Region zu bewahren. Die Lieder, die sie performen, sind eigentlich ursprünglich nicht für ein Publikum gedacht, sondern werden eher bei privaten Zusammenkünften gesungen. Neun Frauen im Alter zwischen 25 und 80, auf Stühlen im Halbkreis sitzend und sich selbst lediglich mit einigen Perkussionsinstrumenten begleitend. Mehr Roots geht quasi nicht. Im krassen Gegensatz dazu ÄTNA. Zwei Jazzstudent*innen aus Dresden, Inéz Schaefer und Demian Kappenstein, verrühren Drums, Keyboard, Minimalismus, Elektronik, experimentelle Sounds und spacige Lichteffekte zu einer futuristischen Show, bei der neben der Musi eben auch die visuelle Komponente eine große Rolle spielt. Beide, LEMMA und ÄTNA waren auf ihre Art großartig und beide passen ins Konzept des Rudolstadt-Festivals.
Damit wäre die Liste abgehakt. Aber was wichtiger ist als alles bislang erwähnte, ist das spezielle Rudolstadt-Gefühl, das man zwei Jahre missen musste, und das nun eindeutig wieder da war. Die volle Bandbreite dieses großartigen Festivals in einen Artikel zu packen ist schlichterdings unmöglich. Aber wir haben auf alle Fälle noch viel mehr Fotos für Euch, unter anderem von MÀNRAN, TRAD. ATTACK!, IVARH, FARA, CIMARRÓN, ANDREAS REBERS, CHOUK BWA, EZÉ WENDTOIN, MARKUS REINHARD ENSEMBLE, KAJSA BALTO BAND, AK DAN GWANG CHIL, SANTROFI, BOŽO VREĆO und vielen mehr findet Ihr in unseren Galerien: